Das 60. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm ist zu Ende, 340 Werke aus 57 Ländern standen auf dem Programm, 21 Preise wurden vergeben, gleich vier davon an einen Film.
Der Film, der am Ende mit den meisten Auszeichnungen bedacht wurde, ist natürlich der eine Film, den ich nicht gesehen habe. Er lief im Deutschen Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm. Ich habe alle neun Filme in diesem Wettbewerb gesehen. Alle, bis auf einen: Wildes Herz. Ein Film über die Rostocker Punk-Band Feine Sahne Fischfilet und ihr Engagement gegen Rechts, in Co-Regie mit Sebastian Schultz gemacht von einem bekannten Newcomer in Sachen Dokumentarfilm, dem Schauspieler Charly Hübner. Wildes Herz wurde also schließlich mit vier Preisen ausgezeichnet: dem DEFA-Förderpreis, dem ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness, dem Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts und dem Gedanken-Aufschluss-Preis. Vier Preise, allerdings ist keine Goldene Taube darunter. Das tröstet mich ein wenig. Denn bei der Berlinale verpasse ich ja tatsächlich meistens den Goldenen Bären, mindestens aber einen Silbernen Bären, wenn ich einen einzigen Film des Wettbewerbs auslasse …
Wer zukünftig wissen will, welcher Film sehr gute Preisträger-Chancen bei einem Festival hat, das auch ich besuche: einfach fragen, welcher Film partout nicht in meine Zeitplanung passen will! Bei DOK Leipzig habe ich in diesem Jubiläumsjahr ein strammes Programm absolviert: 41 Filme (lang und kurz) und zwei Masterclasses, aber dafür nur eine Party und zwei Empfänge in sechs Tagen. Jetzt, sechs Tage nach Ende des Festivals ist es Zeit, ein Fazit zu ziehen. Time to shake it off!
„… dogs do this by moving different parts of their body in different directions at the same time“
Der diesjährige Festival-Trailer war auf jeden Fall ein Gewinner: einem sich in Zeitlupe trockenschüttelnden Hund kann man gut vor jeder Vorstellung zuschauen, gerne fünf mal am Tag, ohne dass es weniger faszinierend wäre. Der sich schüttelnde Hund kommt aus dem Archiv von Jay Rosenblatt, dessen umfassendes experimentelles Werk mit einer Hommage gewürdigt wurde und der in einer Masterclass einen sehr interessanten Einblick in seinen Umgang mit Archiv- und selbstgedrehtem Homemovie Material gegeben hat. Diese Masterclass ist übrigens der Grund, warum ich Wildes Herz „verpasst“ habe. Eine ganz rationale Abwägung, um mich zwischen zwei zeitgleichen Events zu entscheiden: einen Film kann man auch bei anderer Gelegenheit nochmal sehen (Wildes Herz wird am 12. April 2018 in die Kinos kommen), eine Masterclass mit einem Filmemacher ist eine einmalige Gelegenheit.
„I see myself mostly as a collage filmmaker“
[Jay Rosenblatt]
Jay Rosenblatt stellte seine Arbeit an seinen Filmen Short of Breath, The Smell of Burning Ants, Human Remains, Phantom Limb und Beginning Filmmaking vor und erwies sich dabei als Mann mit sympathischem Humor und offener Art, über seine Filme zu erzählen, die zum Teil sehr persönlich sind, wie z.B. Phantom Limb über den Verlust seines kleinen Bruder, der gestorben ist, als er selbst neun Jahre alt war. Er habe sich bei diesem Film gegen ein Voice-over und stattdessen für Zwischentitel entschieden, so erzählt er, weil diese durch das Lesen zur inneren Stimme des Zuschauers würden und so die sehr persönliche Geschichte zu einem universellen Film über Verlust und Trauer machten. Auch über die Entstehungsgeschichte seines vielleicht bekanntesten Filmes berichtet er ausführlich: Human Remains. Hier plaudern fünf tote Diktatoren aus ihrem Leben.
„It’s a very creepy film … in some ways it’s a mockumentary“
[Jay Rosenblatt über seinen Film Human Remains]
Human Remains lebt von der Spannung zwischen dem, was man über Hitler, Mussolini, Stalin, Franco und Mao weiss – was der Film abber kalkuliert und konsequent ausspart – und dem, was der Film stattdessen erzählt: banale Dinge aus deren Alltag, von Lieblingsspeisen bis zu Blähungen. Ein Film, der auch manchmal missverstanden wird, wie Jay Rosenblatt in diesem Interview während des Festivals erzählt:
Auch die öffentliche Masterclass mit Sergei Loznitsa (dessen Film Austerlitz im letzten Jahr mit der Goldenen Taube ausgezeichnet wurde und dessen Maidan 2014 im Wettbewerb vertreten war) war ein besonderes Event, da der Filmemacher – mit seinem gewohnt hintergründigem Humor – nicht nur den Entstehungsprozess seiner Werke Blockade und The Event veranschaulichte, sondern auch einen Ausschnitt aus der just am Vortag fertiggestellten 122-minütigen Rohschnitt-Fassung seines neuesten Films The Trial präsentierte, der ganz aus Archivmaterial eines historischen russischen Schauprozesses besteht – und damit das Potential in sich trägt, politisch höchst aktuell zu sein.
„You can’t make a film that is 100% true … only if you are god“
[Sergei Loznitsa]
Eine weitere Masterclass bot sich während des Festivals im Rahmen der Animation Night Extended: Nach der Deutschlandpremiere von Loving Vincent – dem weltweit ersten Film, der Frame für Frame komplett in Öl gemalt wurde – gab Produzent Hugh Welchman einen detaillierten Einblick in den Entstehungsprozess des Films, der das letzte Lebensjahr und den Tod Vincent van Goghs dramaturgisch wie ein Murder-Mystery verpackt – und für die Kunstbeflissenen unter den Zuschauern zusätzlich noch den Kitzel bietet, wieviele Original-Gemälde in den Bewegtbildern zu entdeckt sind.
Der Bonus an der Programmplanung bei DOK Leipzig ist, dass diese die Festivalbesucher über den eigenen Fokus hinausblicken lässt: Auch wenn man sich z. B. „nur“ auf den deutschen und den internationalen Wettbewerb langer Dokumentarfilme konzentriert (so wie ich), so hat man am Ende doch auch eine Menge Animationsfilme und kurze Dokumentarfilme gesehen, weil nämlich die Vorführungen mit „Vorfilm“ oder als gleich als Doppelprogramm daherkommen.
Wirklich sehenswerte kurze Entdeckungen waren für mich so „nebenbei“ der Dokumentarfilm Clean Hands von Lauren DeFilippo aus den USA (9 min) und die Animationsfilme I Don’t Feel Anything Anymore von Noémie Marsily und Carl Roosens aus Belgien und Kanada (10 min), Deyzangeroo, von Ehsan Gharib aus Kanada (4 min) – ausgezeichten mit der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb kurzer Animationsfilm und Megatrick von Anne Isensee aus Deutschland (2 min) – Preisträger der Goldenen Taube im Deutschen Wettbewerb kurz.
Auch Edge of Alchemy von Stacey Steers aus den USA (19 min) war eine echte Entdeckung: atmospärisch-fantastische Bildwelten, kombiniert aus Stummfilmfrauen und Cut-up Animation. Dazu Sounddesign und Musik, die eine ganz eigene entrückte Welt schaffen. Ein seltsam betörender Trip wie ein (Alp-)Traum – der allerdings mit halber Länge noch intensiver gewesen wäre. Wie hat Jay Rosenblatt während seiner Masterclass noch gesagt?:
„If you’ve made your point, don’t make it again. You’re just diluting the film.“
[Jay Rosenblatt]
Seit seiner Gründung als Dokumentarfilmwoche im Jahr 1955 reagiert die internationale Filmschau in seiner Programmauswahl immer auch auf die politische Gegenwart. In diesem Jahr war es ein Film, dessen Programmierung Festivalleiterin Leena Parsanen während des Festivals zur deutlichen Stellungnahme zwang: Sabine Michels Dokumentarfilm Montags in Dresden.
„DOK Leipzig steht für Weltoffenheit und demokratische Werte. Das Festival distanziert sich von jeglichen Aktionen von Pegida.“
„Wir müssen aushalten können, dass andere nicht unserer Meinung sind. Das Festival möchte kontroversen Debatten nicht ausweichen, dieser Realität wollen wir uns stellen.“
[Leena Pasanen in der Stellungnahme zum Film Montags in Dresden]
Der Film, der drei Pegida-Anhänger über ein Jahr begleitet, war für den „Filmpreis Leipziger Ring“ nominiert, den Publikumspreis für einen hervorragenden Dokumentarfilm über Menschenrechte, Demokratie oder bürgerliches Engagement. Dies sorgte für Irritationen, besonders da der Film es durch seine ungefilterte Machart Pegida leicht macht, ihn als „ihren“ Film zu vereinnahmen.
DOK Leipzig öffnete sich in in der Festivalwoche sehr für Publikum und Diskussionen. Nicht nur im geschlossenen Kinosaal, sondern auch im Hauptbahnhof, wo abendlich öffentliche, kostenlose Vorführung auf dem Programm standen. Nicht nur Montags in Dresden wurde dort gezeigt (und in der randvollen Osthalle dann emotional diskutiert), auch der Eröffnungsfilm Betrug war dort zu sehen. David Spaeths Dokumentarfilm erzählt aus Sicht von Täter und Opfern die Geschichte eines Hochstaplers, der die wohlbetuchte heile Welt eines selbstverwalteten Schwabinger Kindergartens aufmischt, indem er zunächst einen Kindergartenplatz für seinen Sohn erschwindelt, und sich dann über die Finanzen des Vereins hermacht. Betrug war im Deutschen Wettbewerb nominiert, am Samstagabend aber schließlich nicht unter den Preisträgern.
Die Goldene Taube im Deutschen Wettbewerb ging an die israelisch-deutsche Koproduktion Muhi – Generally Temporary von Rina Castelnuovo-Hollander und Tamir Elterman. Im Mittelpunkt ihres Films steht der kleine Palästinenser-Junge Mohammad. Er ist auf die medizinische Hilfe in einem israelischen Krankenhaus angewiesen – in dem er mit seinem Großvater über Jahre lebt, während sich um seine persönliche Geschichte herum der ganze alltägliche Wahnsinn des Palästinensisch-Israelischen Dilemmas entfaltet. Ein im besten Sinne berührender Film mit einem starken kleinen Protagonisten.
Auch Licu – A Romanian Story – ausgezeichnet mit dem Hauptpreis des Festivals, der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb für langen Dokumentar- und Animationsfilm – wartet mit einem starken Protagonisten auf: Dem 92-jährigen Liviu Canţer, genannt Licu. Regisseurin Ana Dumitrescu hat ihn und seine lebhaften Erinnerungen an die großen politischen Umbrüche des 20 Jahrhunderts porträtiert: Ein Mann, seine Wohnung, seine Fotos von damals und seine Erzählungen. Mehr brauchte die ehemalige rumänische Fotojournalistin nicht für diese gelungene filmische Reise in ruhigen schwarz-weißen Bildern.
Während im Internationalen Wettbewerb Regisseurinnen seit Jahren konstant präsent sind, ist dies im deutschen Wettbewerb nicht immer der Fall: diesmal war nur eine einzige Filmemacherin dabei, als Co-Regisseurin von Muhi – Generally Temporary. Deshalb kündigten Festivalleiterin Leena Parsanen und Ralph Eue, der Leiter der Auswahlkommission, an, eine Frauen-Quote im Deutschen Wettbewerb einzuführen.
„Frauen in der Filmbranche waren in den vergangenen Wochen in den Schlagzeilen, aber wieder nicht aus den Gründen, aus denen sie in der Öffentlichkeit präsent sein sollten: als gefeierte Filmemacherinnen.“
[Leena Pasanen im Statement zur Einführung einer Quote für Regisseurinnen]
Bei der Preisverleihung vor 60. DOK Leipzig standen dann aber doch erfreulich viele Frauen als gefeierte Filmemacherinnen auf der Bühne: von den insgesamt sieben vergebenen Goldenen Tauben gingen fünf an Regisseurinnen und eine sechste gewann ein Film mit einer Frau als Co-Regisseurin – die einzige Frau, die im deutschen Wettbewerb vertreten war. Auf dass im nächsten Jahr im Deutschen Wettbewerb mehr weibliche Konkurrenz herrscht, auf das 61. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm!
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