Die 20. Ausgabe des Thessaloniki Documentary Festivals (TDF) eröffnet mit Agnès Vardas Faces Places / Visages Villages, den sie in Co-Regie mit dem französischen Fotografen und Künstler JR 2016 fertiggestellt hat – und der als Bester Dokumentarfilm am 4.März auch einen Oscar gewinnen könnte. Die legendäre belgische Filmautorin wurde im letzten Jahr schon mit dem Ehrenoscar für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Und sie feiert am 30. Mai tatsächlich schon ihren 90. Geburtstag. Einen Tag später wird passenderweise Visages Villages in Deutschland im Kino anlaufen. In Thessaloniki widmet man der „Grand-mère de la Nouvelle Vague“, wie sie auch gerne genannt wird, während des Festivals eine Hommage. Zehn ihrer wichtigsten dokumentarischen stehen auf dem Programm.
Vom nur 30-minütigen Salut les Cubains aus dem Jahr 1963 über Mural Murals / Mur Murs von 1981 bis hin zum 110-minüter The Beaches of Agnès /Les Plages d‘ Agnès, der2009 mit dem französischen Filmpreis César als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde.
Egal ob Dokumentar- oder Spielfilm (ihr Spielfilm Vogelfrei / Sans toit ni loi wurde 1985 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet), eine Maxime beherzigt die Filmemacherin seit über 60 Jahren in ihrem Generationen prägenden Schaffen:
“In my films I always wanted to make people see deeply.
I don’t want to show things, but to give people the desire to see”.Agnès Varda
[Visages Villages | Regie: Agnès Varda und JR | photo: courtesy of the festival]
Die „Sehnsucht, zu sehen“ kann man in Thessaloniki vom 2. – 11.3.2018 während des Festivals wunderbar stillen: mit aktuellen Dokumentarfilmen aus Griechenland und aus aller Welt – im Angesicht des Olymp. 164 internationale Filme stehen auf dem Programm, 27 davon sind Kurzfilme und 78 griechische Filme, wovon 25 Kurzfilme sind.Im Internationalen Wettbewerb sind in diesem Jahr zehn Filme vertreten, jeweils Erst- oder Zweitwerke von vielversprechenden Regisseuren.
Bei den Auswahlkriterien dachten sich die Festivalmacher Elise Jalladeau und Orestis Andreadakis, die nach der langjährigen Ägide von Festivalgründer Dimitris Eipides die Festivalleitung vor zwei Jahren übernommen haben, warum es nicht mal anders machen? Warum nicht einfach mal ein Buch als Leitlinie zur Filmauswahl heranziehen: George Perecs Roman Life a User’s Manual. Ein 600-Seiter mit hunderten Geschichten, in dem das Leben als Rätsel dargestellt wird, das niemals gelöst werden kann. Ein intellektuelles Spiel mit grundlegenden Konzepten wie Zeit, Gedächtnis, Glück, Leben und Tod. Perec war a Mitglied von OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), einer unterhaltsamen Literatur-Bewegung des 20. Jahrhunderts.
Die FestivalmacherInnen von Thessaloniki laden daran angelehnt die Zuschauer nun ein zum OuFeCiPo (Ouvroir de Festival Cinématographique Potentiel). Zu einem spielerischen Umgang mit Filmen, einer alternativen Art des Auswählens, Sehens, Reflektierens und Kritisierens von Filmen. Und dies sind die zehn Wettbewerbs-Filme, die jetzt mit im Spiel sind:
Las cinéphilas | Regie: María Álvarez | Argentinien, 2017, 74′:
The Distant Barking of Dogs | Regie: Simon Lereng Wilmont | Dänemark-Finnland-Schweden, 2017, 90’:
Hotel Jugoslavija | Regie: Nicolas Wagnières | Schweiz, 2017, 78’:
Meteors | Regie: Gürcan Keltek | Niederlande-Türkei, 2017, 84’:
All that Passes by a Window that Doesn’t Open | Regie: Martin Dicicco | USA-Katar, 2017, 70′
Angkar | Regie: Neary Adeline Hay | Frankreich, 2017, 71′
Awaken | Regie: Jiawei Ning | China, 2017, 62′
Baronesa | Regie: Juliana Antunes | Brasilien, 2017, 70’
Obscuro Barroco | Regie: Evangelia Kranioti| Frankreich, Griechenland, 2018, 60′
Across Her Body | Regie: Zacharias Mavroeidis | Griechenland, 2018, 85′
Das Schöne am TDF ist immer wieder die Mischung der Filme, auf die Filmfestival-Vielflieger hier treffen: hier lässt sich nicht nur Neues entdecken, sondern auch ganz entspannt Ausgezeichnetes und Verpasstes von IDFA oder Berlinale nachholen – wie z.B. Mila Turajlics The Other Side of Everything, der in Amsterdam den Hauptpreis des Festivals gewann. In diesem Jahr sind in Thessaloniki viele Filme wichtiger FilmemacherInnen im Programm: darunter Frederick Wisemans Ex Libris: New York Public Library, Claude Lanzmanns Napalm, Piazza Vittoria von Abel Ferrara, A Skin So Soft von Denis Côté oder auch The Dead Nation von Radu Jude.
Im Jahr 2018 darf natürlich auch in Thessaloniki ein 68er Tribut nicht fehlen. Unter dem Titel ’68 Beyond ’68 werden sieben lange und kurze Dokumentarfilme gezeigt, die weniger bekannte Aspekte des 68er-Erbes in Europa, den USA, Lateinamerika und im Nahen Osten beleuchten. Vom Aufstand japanischer Bauern, die zusammen mit Studenten 1968 gegen einen Flughafen-Neubau kämpften (Summer in Narita von Shinsuke Ogawa, Japan 1968) über die Allianz zwischen den Black Panthers und einer Gruppe radikaler Weißer in der Folge der 1968 Democratic National Convention riots in Chicago (American Revolution 2 von Howard Alk, USA 1969) bis zum Essayfilm In the Intense Now (2017) von João Moreira Salles aus Brasilien, der mittels rarem Archivmaterial aus Paris, Prag und China der Frage nachgeht: “What was the spirit of 1968?”
Außerdem steht eine Hommage an die Anthropologen und Filmemacher Verena Paravel and Lucien Castaing- Taylor mit sechs Filmen auf dem Programm, darunter natürlich auch ihre Festival-Erfolge Leviathan und somniloguies. Unter dem Motto A Look into the Bizarre wird es eine Diskussion mit den beiden geben – moderiert von Athina Rachel Tsangari (die Produzentin der Filme von Giorgaos Lanthimos und Regisseurin von Attenberg und Chevalier).
Premiere feiert bei der diesjärigen Festival-Editon zudem eine neue Wettbewerbs-Sektion mit VR/ Virtual Reality Filmen. Man darf also sehr gespannt sein auf das 20. Jubiläum des Festivals – und auch darauf, ob Agnès Varda für Visages Villages einen Oscar gewinnt!