Gesellschaftspolitisch relevante Themen, weltweit drängende Konflikte und persönliche Geschichten im Schatten großer Umbrüche: Mit 74 Langfilmen aus mehr als 50 Ländern zeigte das 74. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) einmal mehr, dass Kino weit über Unterhaltung hinausweisen kann. Unter der Leitung von Sascha Keilholz und seinem Team versteht sich das Festival als Ort der Begegnung und des offenen Austauschs – als Angebot, filmisch über die Welt ins Gespräch zu kommen. Über 35.000 Besucher*innen kamen vom 6. bis 16. November 2025 dieser Einladung nach.
Erstmals wurde bei der diesjährigen Festival-Ausgabe der Deutsche Dokumentarfilmpreis im Rahmen des IFFMH verliehen – an Im Prinzip Familie von Daniel Abma. Die prominente Platzierung dieser Auszeichnung macht deutlich, welchen Stellenwert das IFFMH dem dokumentarischen Erzählen beimisst.
Ein zentraler Ort für dokumentarische und essayistische Formen im Programm des IFFMH war auch 2025 die Sektion Filmscapes. Sie bietet Raum für nicht-lineare, poetische und reflektierende Formate – für Filme, die sich zwischen Beobachtung, Archiv und Imagination bewegen. Hier fanden sich Werke, die sich historisch, politisch und persönlich mit Erinnerung, Archivmaterial und aktuellen gesellschaftlichen Realitäten auseinandersetzen. Auch Filme in anderen Programmsektionen – etwa in Pushing the Boundaries oder dem Wettbewerb On the Rise – loteten hybride Formen aus, in denen dokumentarische Elemente mit Fiktion verwoben werden
Thematisch widmete sich das Festival in diesem Jahr verstärkt postmigrantischen Erfahrungen. Zahlreiche junge Filmemacher*innen erzählen von Flucht, Verlust, Exil, Neuanfang – von Biografien, die sich zwischen Welten bewegen. Darin zeigt sich das Dokumentarische nicht als bloße Abbildung des Geschehens, sondern als aktives erzählerisches Mittel, um persönliche und politische Geschichten neu zu verhandeln. Dokumentarische Formen als Werkzeug einer gesellschaftlichen Verständigung: Sie machen Unsichtbares sichtbar, geben marginalisierten Perspektiven Raum und eröffnen kollektive Reflexionsräume.
Die Filmauswahl zeigt auch, wie unterschiedlich dokumentarisches Erzählen aussehen kann – roh, poetisch, essayistisch oder analytisch – aktuell gedreht oder aus dem Archiv geholt – rein beobachtend oder hybrid inszeniert – und welche erzählerische Kraft diese verschiedensten formalen Ansätzen entfalten können:
Waking Hours — Die Realität im Zwischenraum

Gedreht ohne künstliches Licht in der nächtlichen Dunkelheit eines Waldgebiets an der ungarischen Grenze, nähert sich dieser Film langsam und fragmentarisch einer Situation an, die sich im Verborgenen abspielt: die existentielle Realität von Geflüchteten und Schleppern, die sich provisorisch im Limbo an den Außengrenzen Europas eingerichtet haben. Die sich in selbstgebauten Verschlägen aus Plastikplanen vor dem Regen schützen, die über einer Feuerstelle ihre Mahlzeiten zubereiten und die am Handy eine nächste Schleusung klarmachen.
Der Film gibt nur Fragmente von Geschichten preis – das filmische Erzählen bleibt schlaglichthaft, vermittelt Zustände, Atmosphäre, Zwischenräume. Gespräche, Geräusche, Bewegungen im Dunkeln vermitteln die prekäre Realität eines Lebens im Transit. Nicht alle Bilder in der Dunkelheit sind vollständig fassbar; das Exil, das Warten, die Unsicherheit bleiben ambivalent. Die Regie-Entscheidung, Atmosphäre über Information zu stellen, das erhellende Tageslicht konsequent zu vermeiden, macht das physische und psychische Zwischenland in dem sich die Protagonisten befinden, für das Publikum spürbar.
Militantropos – Die Realität des Krieges im Alltag

Ein hochaktueller Film über die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das tägliche Leben in der Ukraine. In klaren unaufgeregten Bildern seziert er, wie der Krieg den Alltag der Menschen in der Ukraine durchdringt. Wie Zerstörung, Verlust und Widerstand erlebt werden. Wie Normalität und Ausnahmesituationen in Kriegszeiten nebeneinander bestehen. Wie das Leben weitergeht. Wie Zerstörung, Verlust, Widerstand und Routine in Kriegszeiten die Menschen verändert.
Eine visuell sehr eindrucksvolle Zustandsbeschreibung eines versehrten Landes und zugleich durch das Stilmittel der Zwischentitel eine thesenhafte Reflexion über Persönlichkeitsveränderung in Kriegszeiten, über die Unmöglichkeit als Zivilist auf Dauer ein ziviles Leben in diesen Umständen zu führen.
Palliativstation — Die Würde des Sterbens auf der Leinwand

In einer Laufzeit von 245 Minuten – sprich: über 4 Stunden – begleitet dieser Film Menschen im Angesicht des Todes und zeigt Pflege, Fürsorge und Abschied in großer Nähe und Offenheit. Über drei Monate hat Regisseur Philipp Döring allein auf einer Palliativstation in Berlin gedreht. Als er den Film im Rahmen des IFFMH im bis auf den letzten Platz vollen Kinosaal vorstellt, sagt er einleitend, dass viele Zuschauer sich ja zweimal überlegen würden, ob sie sich den Film anschauen – die Länge, die Thematik. Die Hürden sind hoch. Um so glücklicher darf man sein, wenn man es gewagt hat und sich auf diese dokumentarische Erfahrung eingelassen hat. Und um so dankbarer kann man sein, dass Philipp Döring sich an sein Sujet gewagt hat und diesen einfühlsamen Einblick ermöglicht, der letztendlich keine Minute zu lang wirkt. Denn der Film öffnet einen seltenen Raum für Reflexion über Endlichkeit, Abschied, Würde, Menschlichkeit (und auch die Strukturen unseres Gesundheitssystems).
Seine Intensität erreicht der Film gerade auch durch die Zeit, die er sich darin lässt, um Zwischenmenschliches sichtbar zu machen. Die dokumentierten Interaktionen zwischen Patienten, Pflegenden und Angehörigen entfalten sich oftmals über lange Dauer ungeschnitten. Der Tod wird nicht abstrakt behandelt, sondern konkret, mit echten Menschen, ihren Geschichten, ihren Gedanken, ihren Ängsten, ihrem Humor, ihrer Würde. Das Tabuthema Sterben wird zugänglich auch durch die beeindruckende Empathie des behandelnden Arztes und die menschliche Selbstverständlichkeit mit welcher er den Patienten begegnet. Letztendlich transzendiert der Film mit den Fragen, die er berührt, sein abgeschlossenes Setting in den Räumen der Palliativstation und setzt eine Reflexion in Gang nicht nur über das Leben im Angesicht des Todes, sondern über das Leben an sich und was darin für das menschliche Dasein existentiell ist.
All I Had Was Nothingness — Eine filmische Reflexion über Lanzmanns Shoah

Braucht man nach Claude Lanzmanns monumentalem dokumentarischen Werk Shoa noch einen Dokumentarfilm über dieses epochale Werk, das die erschütternde Erinnerung an den Holocaust in Begegnungen mit Überlebenden und Tätern in den 1980er Jahren auf Film gebannt hat? Gibt es da überhaupt noch einen Erkenntnisgewinn? Mit diesen Fragen bin ich ins Kino gegangen. Und nach gut 90 Minuten war die Antwort klar: Ja.
Denn Ribots Dokumentarfilm, der gänzlich aus Material montiert ist, das Claude Lanzmann während seiner Arbeit an Shoa gedreht hat und der aus dem Off auch Lanzmann in seinen eigenen Worten (aus seinen Tagebuch-Notizen) zu Wort kommen lässt, fügt Landmanns Shoa eine reflektierende Meta-Ebene hinzu.
Lanzmanns Ringen um eine angemessene Herangehensweise, seine Energie und Lebenszeit, die er in dieses monumentale, über 9 Stunden lange Werk gesteckt hat, aber auch seine konkrete Vorgehensweise beim Finden und Aufspüren seiner Protagonisten und Durchführen der Interviews reflektiert der Film in seinen psychologischen und ethischen Dimensionen.
Eine sich anschließende Frage ist allerdings: Funktioniert Ribots Film auch bei Zuschauer*innen, die Lamnzmanns Shoa nicht gesehen haben? Die den Protagonisten noch nie begegnet sind, vorher ihre ausführlichen Schilderungen nicht gehört haben? Den ganzen systematischen Kontext des Grauens in seinen Ausmaßen, wie ihn Shoa offenbart, nicht präsent haben? Falls die Antwort auf diese Fragen nein sein sollte, dann ist All I Had Was Nothingness – Je n’avais que le néant (‘Shoah’ par Lanzmann) von Guillaume Ribot immer noch eine sehenswerte Würdigung der filmischen und menschlichen Kraftanstrengung, die Claude Lanzmann auf sich genommen hat, um die Erinnerung an den Holocaust aus erster Hand vor der Vergänglichkeit zu bewahren.
Do You Love Me – Ein Land erzählt sich aus Klängen und Bildern

Eine filmisch-essayistische Spurensuche im Libanon, einem Land, das kein nationales Filmarchiv besitzt. Der Film arbeitet nur mit Found Footage Material – Bilder und Töne aus Filmen, Fernsehsendungen, Homevideos, Popmusik, Fotografien. Ein kollektives kulturelles Gedächtnis, aus dem sich die Geschichte eines Landes ablesen lest, nicht als chronologischer Ablauf, sondern als Abfolge emotionaler Zustände. In rasanten Montagesequenzen (Editor: Qutaiba Barhamji) formen sich psychische Konstanten der fragmentierten Geschichte des Libanons: Freude, Freiheit, Krieg, Terror.
Aus mehr als 20.000 Quellen hat Regisseurin Lana Daher Found-Footage Material für diesen Film gesichtet – und zum ihrem Filmprojekt einen Index des Materials erstellt, das von der Gegenwart bis in die 1920er Jahre zurückreicht.
Under the Flags, the Sun – Archivmaterial als Politisches Werkzeug

Wie auch Do You Love Me besteht Under the Flags, the Sun (Bajo las banderas, el sol) von Juanjo Pereira gänzlich aus Archivmaterial (mit Ausnahme der letzten Einstellung, die das Filmteam selbst gedreht hat). Das Archivmaterial stammt aus der Zeit von Alfredo Stroessners 35 Jahre währenden Diktatur in Paraguay: Propagandafilme, Nachrichten aus dem Staatsfernsehen, ehemals geheime Dokumente – Material, das Indoktrination und Führerkult illustrieren.
Durch die essayistische Montage schaffen Regisseur Pereira und Filmeditor Manuel Embalse einen „Medienessay“, der Geschichte und Erinnerung aus der Perspektive von Archiv und Macht beleuchtet und gleichzeitig über das Medium Film selbst reflektiert. Denn Archivmaterial ist nie „neutral“ – es kann Macht stabilisieren, aber auch kritisieren. So spielen sie in Szenen „respektlos“ mit Propaganda-Material, lassen Soldaten rückwärts marschieren, sie rekonstruieren damit eine Diktatur, um sie gleichzeitig zu dekonstruieren.
Der Film stellt sich aktiv gegen ein Vergessen, indem er Propaganda neu bewertet und grundsätzliche medienpolitische Fragen relektiert: Wie erzeugt ein Regime Bilder von Macht? Wie überlebt Propaganda in den Erinnerungen einer Gesellschaft? Welche Verantwortung trägt das Kino in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Juanjo Pereiras sieht seine Arbeit als Mahnung gegen das Vergessen – wie er beim Publikumsgespräch in Mannheim erzählt – er betreibt Archivarbeit als kritischen Akt, und will sich durch diese Arbeit auch weiter mit den Fragen nach Verantwortung, Macht und Perspektive auseinandersetzen.
Und er erzählt, dass die letzte – selbst gedrehte – Einstellung des Films, die die bronzenen Füße der abgeschlagenen Statue Streossners auf einem Podest zeigt, nun auch Archiv-Charakter hat: inzwischen sind auch die Füße vom Sockel verschwunden …
Noviembre – Politthriller mit dokumentarischer Tiefe

Noviembre (November) von Tomás Corredor ist kein Dokumentarfilm, sondern ein auf historischen Ereignissen beruhender Politthriller mit dokumentarischen Elementen:
Am 6. November 1985 belagerte die Guerilla-Gruppe M-19 den kolumbianischen Justizpalast – ein Ereignis, das sich tief ins kollektive Gedächtnis des Landes eingebrannt hat. Regisseur Tomás Corredor nimmt diesen Tag als Ausgangspunkt für seinen Film Noviembre, der das historische Geschehen nicht nacherzählt, sondern in ein konzentriertes Kammerspiel, getragen von hochkarätigen Schauspieler*innen, überführt.
Der Film spielt fast vollständig in einem einzigen Badezimmer innerhalb des Palastes. Dort hält eine kleine Einheit des M-19 mehrere Geiseln fest: Richter*innen, Verwaltungsangestellte, Mitarbeitende des Hauses. Das Setting ist bewusst begrenzt. Von draußen dringen Explosionen und Funksprüche in den Raum; der militärische Angriff der kolumbianischen Armee bleibt akustisch stets präsent als permanente Bedrohung.
Corredor arbeitet zudem mit Archivmaterial, das er gezielt und zurückhaltend einsetzt. Die echten Bilder zeigen das Geschehen vor dem Palast und fungieren als Realitätsanker. Sie verstärken die Fiktion nicht nur, sondern stellen sie in historischen Kontext.
Dabei erhebt der Film keinen Anspruch auf Vollständigkeit und verzichtet bewusst auf eine umfassende historische Einordnung oder eine eindeutige Erklärung der Ereignisse. Manche traumatischen Geschehnisse lassen sich nicht vollständig erklären, sondern es ist nur eine Annäherung möglich. Die Montage von dokumentarischen und fiktionalen Elementen schafft in Noviembre eine Tiefe, die weit über eine reine Nacherzählung hinausgeht.
I Only Rest in the Storm – Postkoloniale Reflexion im Dokumentar-Hybrid

Pedro Pinho entfaltet in I Only Rest in the Storm (O Riso e a Faca) ein umfangreiches narrativ-dokumentarisches Geflecht aus persönlicher Begegnung, politischer Analyse und poetischer Beobachtung.
Der Protagonist Sérgio (ein portugiesischer Umwelt-Ingenieur, gespielt von Sérgio Coragem )reist nach Guinea-Bissau, um über ein Bauprojekt zu berichten. Dabei entstehen echte Begegnungen mit Einheimischen, Themen wie Umweltzerstörung, postkoloniale Machtverhältnisse und Genderdynamiken werden angesprochen. Der Film nutzt dokumentarische Elemente – realer Kontext, tatsächliche Probleme – für eine facettenreiche Reflexion über Macht, Umwelt und Beziehungen.
Erinnerung an koloniale Strukturen wird durch persönliche Erlebnisse und Gespräche mit Einheimischen sichtbar gemacht. Gegenwartsthemen wie ökologische Krise und soziale Ungleichheit stehen klar Zentrum. Der Film verschmilzt fließend dokumentarische Recherche mit narrativen Mitteln und zeigt, wie koloniale Vergangenheit bis in die Gegenwart hineinwirkt – in Beziehungen, in Landschaften, in Strukturen. Der Film entwickelt dabei einen Sog, der die über 210 Filmminuten zum traumwandlerischen Erlebnis macht.
Blue Heron – Erinnerung als filmische Konstruktion.

Obwohl fiktional erzählt, ist Blue Heron von Sophy Romvari tief autobiografisch geprägt und hat eine stark erinnerungs-essayistische Qualität. Der Film erzählt aus der Perspektive eines Kindes (Sasha), das mit seiner ungarischstämmigen Familie in den 1990er Jahren nach Kanada zieht, und dessen großer Bruder an psychischen Problemen zugrunde geht. Die Aufarbeitung dieses Verlusts ist der Ausgangspunkt von Sophy Romvaris Spielfilmdebüt, dessen Drehbuch geschickt die Themen Erinnerungsarbeit und Umgang mit Verlust in filmische Mittel übersetzt:
Die erwachsene Sascha begibt sich später auf eine Reise in ihre Vergangenheit, um mit ihrem reflektierten Wissen von heute das familiäre Trauma zu heilen. Was nach dem Zeitsprung zur erwachsenen Sasha im Film kurzzeitig wie eine sehr persönliche eindimensionale Traumabewältigung der Regisseurin wirkt – und die Frage aufwirft, ob ein breites Publikum daran überhaupt Interesse haben könnte, entpuppt sich als narrativ geschickt konstruierte Einbettung von dokumentarisch gedrehten Psychologen-Interviews (auch der echten Psychologin, die den persönlichen Verlust der Regisseurin adressiert, die zwei Brüder verloren hat). Die Filmfiktion macht das möglich, was sich viele nur wünschen können, die mit dem Verlust von geliebten Menschen umgehen müssen: die Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schließt sich, das familiäre Träume kann aktiv aufgearbeitet werden.
Blue Heron wurde auf dem 74.IFFMH sehr zu recht mit dem Rainer-Werner-Fassbinder-Award für das beste Drehbuch und zudem mit dem Student Award ausgezeichnet.
Alle Preisträger-Filme des 74. IFFMH >
[Kirsten Kieninger]
