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Schluss mit dem DOKUMENTralala!

Warum man einen Dokumentarfilm gefälligst beim richtigen Namen nennen sollte …

[update 30. März 2021: dieser Text ist schon 2014 als Kolumne auf www.kino-zeit.de erschienen – dort heute allerdings nicht mehr verfügbar; hier nun in ganzer Länge eingestellt,  weil gerade in der aktuellen Diskussion um den Dokumentarfilm „Lovemobil“ von Elke Margarete Lehrenkrauss auch wieder die Begriffe „Dokumentarfilm“ und „Dokumentation“ durcheinandergeworfen werden …]

„Ich freue mich sehr, dass wir Ihnen jetzt diese Dokumentation vorstellen können!“

Nein, Sie haben sich nicht auf eine Pressekonferenz zum Erscheinen irgendeiner brisanten 900-Seiten-Studie verirrt. Sie befinden sich im Kino. Und was hier ebenso stolz wie falsch angekündigt wird, ist ein 90-minütiger Dokumentarfilm. Ein Dokumentarfilm. Dokumentationen haben auf der Leinwand nichts zu suchen. Die gehören in den Aktenschrank – oder, wenn sie denn in Bild und Ton gewandet daherkommen, ins Fernsehprogramm. Dort glaubt man noch an die objektive Wahrheit. Ausgewogen dargebracht und begleitet von einem objektiven Kommentar, gerne geschrieben von Guido Knopp. Hier hat jene „Buchhalterwahrheit“ ihren (Sende-)Platz, die Filmemacher Werner Herzog gleich zu Beginn seiner Karriere angewidert in die Schublade packte, um dann auszuziehen auf der Suche nach der „ekstatischen Wahrheit“.

Die Ekstase der Wahrheit findet sich naturgemäß nicht in der bloßen „Zusammenstellung und Nutzbarmachung von Dokumenten, Belegen und Materialien jeder Art“. Um diese trockene Materie hat sich laut Duden ein Dokumentarist zu kümmern – und beim ZDF eben ein Guido Knopp. Filmemacher wie Werner Herzog dagegen scheren sich nicht um Objektivität, sie konfrontieren den Zuschauer mit ihrem subjektiven Blick. Und Herzog legt noch seinen eigensinnig zelebrierten Kommentar obendrauf.

Aber egal, ob impertinent von der Tonspur oder dezent aus dem montierten Bilderfluss: Aus Dokumentarfilmen spricht die subjektive Stimme der FilmmacherInnen. In Dokumentationen dagegen dozieren SprecherInnen. „Wenn ich Filme mache, ist es nicht meine Absicht, den Zuschauer zu belehren. Das würde den filmischen Aspekt meiner Filme gefährden. Denn im Kino geht es nicht um die Präsentation von Wissen.“ Das sagt nicht Werner Herzog, sondern der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert. Zwischen Dokumentation und Dokumentarfilm klafft also ein gewaltiger Unterschied. Deshalb sollte man die beiden Begriffe nicht leichtfertig gleichsetzen. Was leider oft genug geschieht, sogar in Kontexten, wo sich so etwas von selbst verbieten sollte. Der Eingangssatz dieser Kolumne wurde zum Beispiel zur Einleitung einer Filmvorführung kurzerhand so dahinmoderiert – bei einem Dokumentarfilm-Festival, dessen Namen ich hier ob dieses Fauxpas lieber verschweigen will.

Nicht schweigen dagegen will ich über mein Unbehagen, dass zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm akkurat in bester Buchhaltermanier unterschieden wird, während allerdings Dokumentarfilm auch gerne gleichgesetzt wird mit Dokumentation oder auch Reportage. Das ist ärgerlich! Ein Dokumentarfilm ist ein filmisches Genre, das nicht mit einer Fernseh-Reportage in einen Topf geschmissen werden sollte – schon gar nicht von (Dokumentar-)Filmliebhabern. Über die Grenzziehung zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm dagegen, oder besser: zwischen Dokumentarischem und Fiktiven können wird gerne diskutieren. Da wird es interessant: „Dokumentarfilm ist nur ein anderer Weg, etwas Fiktives zu machen“, behauptet dann auch Nicolas Philibert, „genau so, wie die Gebrüder Lumière das im späten 19. Jahrhundert getan haben.“

Ja genau, Auguste und Louis Lumière, die „Erfinder“ des Dokumentarfilms. Die in der Filmgeschichte gerne als Gegensatzpaar zu Georges Méliès präsentiert werden, dem „Erfinder“ des Spielfilms. Die Filmbilder konnten kaum richtig laufen, da wurden ihnen schon klare Grenzen gesteckt: hier dokumentarisch – dort fiktiv. Die Arbeiter verlassen die Fabrik vs. Die Reise zum Mond. Wirklichkeit vs. Inszenierung. Dokumentarfilm vs. Spielfilm. Dazwischen unbenanntes Niemandsland, das heute allerdings mehr und mehr vermessen und besiedelt wird. Eigentlich war diese offensive Landnahme lange überfällig, denn so fest, wie diese historische Grenzziehung in den Köpfen auch betoniert sein mag, sie fußte von Beginn an auf schwammigem Grund:

Schon die Lumiérès haben mit ihrem Cinematographen nicht einfach die Realität abgebildet. Sie haben zwar nicht wie Méliès Pappmaché-Kulissen gebaut und sich abenteuerliche Geschichten ausgedacht. Doch schon ihre Arbeiter folgten genauen Regieanweisungen, wie sie durch die Fabriktore zu gehen hatten. Seitdem zieht sich die Inszenierung als Mittel des Dokumentarischen durch die ganze Filmgeschichte. Robert Flaherty beobachtete mit Nanuk der Eskimo nicht das Leben der Inuit, er inszenierte es gemeinsam mit seinem Robbenfellschuhe-weichkauenden Protagonisten. Und Werner Herzog erst: „Einzig durch Erfindung und Erdichtung und Inszenierung ist eine intensivere Ebene von Wahrheit zu erreichen, die anders nicht zu finden wäre.“ Sprach’s und bezahlte während der Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm Glocken aus der Tiefe ein paar russische Trunkenbolde, damit sie wie andächtig vor Aberglauben über einen zugefrorenen See robben: „Einer hat sein Gesicht direkt aufs Eis gelegt und sieht aus, wie wenn er in sehr tiefer Meditation befangen wäre. Die Buchhalterwahrheit: Er war vollkommen besoffen und eingeschlafen, und wir mussten ihn am Ende wecken.“

Im Dienste der ekstatischen Wahrheitsfindung ist vieles erlaubt. Nicht nur bei Werner Herzog. Auch der gerade verstorbene Schweizer Filmemacher Peter Liechti war kein Buchhalter der Wahrheit. Nach Möglichkeit aber auf der Suche nach Wahrhaftigkeit: „Ich bin grundsätzlich an allen cineastischen Möglichkeiten interessiert. Dokumentarische und fiktionale Arbeitsweisen können fließend ineinander übergehen.“ Wenn der Regisseur von Festivals zwecks Katalogisierung gefragt wurde, ob es sich bei seinem Film um einen Dokumentar- oder einen Spielfilm handele, dann antwortete er: „Das interessiert mich überhaupt nicht, es ist einfach ein Film. Er soll das Publikum ansprechen. Mich beschäftigt, ob ich die richtige Sprache finde für einen Film.“ So verschwinden zum Beispiel in seinem – auch mit Dokumentarfilmpreisen ausgezeichneten – Film Das Summen der Insekten – Bericht einer Mumie die Grenzen zwischen Dokumentarfilm, Inszenierung, Film-Essay oder Film-Poem völlig.

Bezeichnenderweise bestimmen oftmals die Rahmenbedingungen, unter denen ein Film gesehen wird, wie er gesehen wird, in welche Schublade er gesteckt wird. Stop that Pounding Heart ist so ein Beispiel. Beim Filmfestival in Cannes wurde der Film zwischen den anderen Spielfilmen des Programms als bescheidenes authentisches Coming-of-Age Drama mit Laiendarstellern und Cinema-verité Dokumentarfilm mit fiktionalen Anteilen.
Alles ist möglich auf der vielfrequentierten Spielwiese zwischen den Grenzmarkierungen Fiktion und Realität. Ein Spannungsfeld, in dem sich Puristen genauso wie Pixelschubser fröhlich tummeln. Solange sie fair spielen, ist das eine Bereicherung. Tun sie es nicht, grenzt es an Beschiss am Zuschauer (so beispielsweise vorsätzlich geschehen im Falle von This ain’t California). Es gibt keine klare Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktiven, soviel dürfte klar geworden sein. Wohl aber zwischen Dokumentarfilm und Dokumentation. Womit wir wieder beim wahren Ärgernis waren, das den Anstoß zu dieser Kolumne gab. Also abschließend noch einmal ausbuchstabiert zum Abschreiben:

Ein fürs Kino produzierter Dokumentarfilm ist keine Dokumentation! Das sollten sich alle mal hinter die Ohren schreiben, die Augen im Kopf haben, um sich den Unterschied anzuschauen – und vor allem alle, die sich professionell mit der Materie beschäftigen. Hört auf, fahrlässig mit Worten zu hantieren! Vielleicht hilft diese Eselsbrücke zwischen zwei Ufern, die weiter nicht auseinanderliegen könnten: „Dokumentation“, das ist Guido Knopp, „Dokumentarfilm“, das ist Volker Koepp.
Also liebe Kollegen, Filmkritiker, Kino- und Festival-Programm-Macher (besonders wenn ihr euch Dokumentarfilme auf die Fahne und ins Programm schreibt) : Könnt ihr bitte aufhören mit dem Dokumentralala? Und Dokumentacheles reden? Ein Dokumentarfilm ist ein Dokumentarfilm ist ein Dokumentarfilm! Danke Schön.

Kirsten Kieninger

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